Sonntag, 27. Januar 2013

Kurzgeschichte: Nachtschicht

Ohne große Umschweife, an diesem schönen(?) Sonntag im Winter habe ich eine Kurzgeschichte für euch. ;) Ich bin gespannt, eure Meinung zu hören.


Nachtschicht

„Das Leben hört nicht auf, komisch zu sein, wenn Menschen sterben. Ebenso wenig, wie es aufhört, ernst zu sein, wenn man lacht.“
George Bernhard Shaw



Man liegt plötzlich wach in der Dunkelheit. Wahrscheinlich von einem Geräusch aus dem Schlaf gerissen, das längst wieder verklungen ist.
Der eine fragt den anderen: „Alles in Ordnung?“
Der andere antwortet dem einen: „Alles in Ordnung.“
Eines der Rituale, mit denen wir uns sagen konnten, wie wir fühlten, ohne dass wir es tatsächlich sagen mussten: Dass wir Heimweh hatten, uns die Dunkelheit Unbehagen bereitete und wir wissen wollten, dass wir nicht alleine im Zimmer waren. Wir sollten erwachsen sein, auf dem Weg in die Zukunft. Aber wir hatten keine Vorstellung von „Zukunft“, denn unser kleines bisschen Vergangenheit hatten wir mit Kindsein verbracht.

***

„Schon mal bei einer Organentnahme dabei gewesen?“
Nina schüttelt langsam den Kopf und sieht mich aus großen, braunen Kuhaugen an, wie sie es schon den ganzen Tag getan hat, jedes Mal, wenn ich sie angesprochen habe.
„Man fährt den Kerl rein“ – ich sage mit Absicht nicht „Patient“, denn das Wort kommt mir in diesem Zusammenhang falsch vor – „noch an der Beatmungsmaschine. Er ist warm, sieht aus wie die anderen, die in Narkose liegen. Lebendig. Aber eigentlich ist er schon Gemüse. Wenn sie die Organe entnehmen, muss alles steril sein. Wie bei jeder anderen OP. Die Organe müssen für die Spender so keimfrei wie möglich sein.“
„Ah.“ Ein zögerliches Kopfnicken.
„Sie entnehmen Lunge, Herz, eventuell den Darm... Der wird nur selten transplantiert, aber trotzdem... Leber und die Nieren natürlich. Die Leber kann man teilen und im besten Fall auf zwei oder drei Empfänger verteilen. Oh, und die Hornhaut. Und die Milz – aber die braucht man nur, um das Immunsystem abzuchecken.“
„Damit der Empfänger auch wirklich zum Spender passt und das Organ nicht abstößt?“ So einen langen Satz hat sie den ganzen Tag noch nicht von sich gegeben.
„Genau.“
„Ich glaub, ich muss noch mal.“ Ihre Hände hängen zitternd an ihr herab, als sie den Pausenraum verlässt.
„Du kannst gut erklären.“ Thorben, einer der OP-Pfleger, grinst und tätschelt mir die Schulter.
Ich bin hundsmiserabel als Lehrer und jedes Mal genervt, wenn ich jemandem was beibringen soll. Aber Thorben hat einen Narren an mir gefressen und deshalb lässt er zu allem, was ich tue, ein Kompliment vom Stapel. Mir ist noch nie ein Mann begegnet, der so wenig Ahnung von Frauen hat!
„Danke“, erwidere ich trocken und stehe auf, um einer weiteren seiner Berührungen zuvor zu kommen. „Noch nen Kaffee?“
„Nein, danke.“
Ich schenke mir eine Tasse ein und lehne mich gegen den Tresen. Dr. Lauch und einer seiner Kollegen stehen draußen auf dem Flur. Lauch erzählt etwas über einen Patienten, worüber beide dann lachen.
„Woran denkst du gerade?“, fragt Thorben.
„Daran, wie man sich aus Liebeskummer umbringen kann“, erwidere ich und bin überrascht, wie mechanisch ich dabei klinge.
„Oh.“ Thorben ist gutmütig genug, um zu wissen, dass er jetzt betroffen wirken muss, aber nicht schlau genug, um zu merken, dass er mich in Ruhe lassen soll, also fährt er fort: „Du hast doch nicht etwa Liebeskummer?“
„Nein. Ich doch nicht!“ Darüber lache ich auf, weil es tatsächlich eine vollkommen abwegige Vermutung ist – und weil ich so das Thema wechseln kann.
„Na, Kinder?“ Emre betritt den Raum mit einem breiten Grinsen, das bei mir ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend verursacht. „Alles klar?“
„Joa, wie’s eben so geht bei der Nachtschicht, Dr. Amin... Noch bin ich fit. Bin aber auch eben erst gekommen. Aber ich glaub’, Lola ist schon länger hier. Seit heute Morgen, oder? Mann, echt hart und das als Student!“
Ja, ich bin ja so fleißig und zäh und was weiß ich nicht alles! Außerdem weiß Emre, wie lange genau ich schon Dienst habe, denn immerhin waren wir den ganzen Tag zusammen.
„Tja, an so was sieht man eben echte Leidenschaft.“ Emre dreht den Kopf zu mir und fährt sich dabei mit der Zungenspitze über die Oberlippe.
„Dann nehm’ ich mir mal ein Beispiel“, gluckst Thorben, „und mach mich auch mit Leidenschaft an die Arbeit.“ Beim Hinausgehen zwinkert er mir zu und ich zwinge mich zu einem kurzen Lächeln.
„Ich glaube, der Kleine steht auf dich.“
„Ich befürchte es.“ Seufzend verdrehe ich die Augen und nehme einen Schluck aus meinem Kaffee. „Vor drei Wochen wollte er mit mir Eis essen gehen. Wie alt ist der? Zwölf?“
„Dreißig.“
Umso schlimmer, denke ich und setze mich wieder, als Dr. Lauch in die Personalküche kommt.
Wenn ich ihn ansehe, verstehe ich nicht, wie man sich über die grüne OP-Arbeitskleidung beklagen kann. Die formlosen Kittel zum Beispiel umschmeicheln jeden Bierbauch so, dass man ihn erst bei genauerem Hinsehen bemerkt – wie bei Lauch. Außerdem wird durch die Stoffhaube versteckt, dass ihm beinahe alle Haare ausgefallen sind. Wenn er wie jetzt in OP-Montur steckt, sieht er besser aus als in weißem Kittel und geschmacklos kariertem Hemd.
„Mann, mein Kleiner bekommt gerade Zähne! Lässt mich keine drei Stunden am Stück schlafen.“ Ein demonstratives Gähnen unterstreicht seine Aussage und er streckt die Arme zur Decke, als er sich räkelt.
„Wie alt is’ der kleine Franz denn jetzt?“, fragt Emre.
„Fast eineinhalb.“
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Kleinkind Franz heißen kann. Das ist ein Name für einen siebzigjährigen Großonkel.
„Meine Frau ist so von der Zahnerei gestresst, dass sie fast fünf Kilo zugenommen hat“, erzählt er weiter. „Zum Glück hab ich bald Urlaub. Mann, oh Mann! Wir haben vor, ein bisschen zelten zu gehen. An den Gardasee. Mal sehen, wie das mit dem Kleinen klappt.“
„Klingt gut“, kommentiert Emre lächelnd. Obwohl ich nie mit Emre darüber gesprochen habe, gehe ich jede Wette ein, dass er nie freiwillig Campingurlaub machen würde. Er ist der Typ All-inclusive-Hotel an der Riviera. Aber Lauch ist sein Oberarzt. Kontinuierliches Honig-um-den-Bart-Schmieren ist hier eine selbstverständliche Höflichkeit wie für andere Menschen „danke“ und „bitte“ zu sagen.


 (Nein, ich habe nicht genug Geduld dafür, alles nach und nach zu posten. ;))

Viele liebe Grüße

3 Kommentare:

  1. Ich muss mich, mal wieder, für Deinen superlieben Kommentar bedanken!
    Vielleicht mag der Anfang etwas schwerfällig sein - Aber es geht um die Hauptaussage und es freut mich sehr, wirklich, dass Du es so nachvollziehen kannst bzw. die Beschreibung so unterstützen kannst, weil es leider nicht irgendeine dystopische Vorstellung ist, sondern wir wirklich bald soweit sind..

    Liebe Grüße, Anka!

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  2. Hey, ich habe dich für den Best Blog Award nominiert und würde mich freuen, wenn du ihn annimmst =)
    Weitere Infos findest du dazu auf meiner Seite.

    Liebe Grüße
    Rebecca

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  3. Ich hab die restlichen Teile auch gleich gelesen und bin ZIEMLICH beeindruckt. Ich hoffe, du machst weiter damit !

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